(Fast) Jede griechische Insel hat ihre eigene Entstehungssage. Santorin, beziehungsweise die Vulkaninsel die es vor der Explosion war, verdanken wir Euphemos, dem Sohn des Poseidon, der damals einen Klumpen Erde in das ägäische Meer warf. So unspektakulär die Geschichte klingt, so spektakulär ist die Inselgruppe, die heute zu den Sehnsuchtszielen schlechthin gehört. Autor Stefan Nink war schon öfter auf dem schönen Kykladen-Archipel zu Besuch und ist immer wieder so verzaubert wie beim ersten Mal.
Es ist noch früh an diesem Morgen in der Ägäis, nicht mehr ganz dunkel, noch nicht wirklich hell, draußen über dem Meer liefern sich Tag und Nacht ihr allmorgendliches Handgemenge, und die Hotelgartentür gibt beim Öffnen ein Geräusch von sich, von dem man ahnt, ach was: von dem man weiß, dass man selbst davon wach geworden wäre. Aber dann steht man schon auf der Gasse, und die Gasse ist: leer. Kein Mensch zu sehen, kein Einheimischer, kein Tourist, selbst den Inselkatzen scheint es noch zu früh zu sein. Die Luxusboutiquen von Firá sind verrammelt, die Souvenirläden ebenfalls, und drüben bei Irini stehen die Tavernenstühle gestapelt wie moderne Kunstwerke. Santorin schläft noch. Erholt sich vom nächtlichen Treiben, rüstet sich gegen den Trubel, der zum Vormittag wieder einsetzen will. Drüben an der Klippe kann man den Pfad sehen, der hinüber nach Oia führt und auf dem jetzt niemand sonst unterwegs sein wird. Über dem Meer hängt ein blasser Mond, er wirft einen schwachen Lichtstreifen auf das anthrazitfarbene Wasser. Ein Fischerboot kreuzt ihn; es sieht aus, als gleite es im Scheinwerferlicht, einen Schwarm Möwen im Schlepptau. Ihr aufgeregtes Zetern ist bis nach oben zu hören. Für einen Moment ist es, als halte die Zeit die Luft an.
Santorin ist so. Man glaubt, es in- und auswendig zu kennen, alles gesehen zu haben, überall gewesen zu sein – und plötzlich entsteht einer dieser magischen Momente, den man so noch nicht erlebt hat auf der Insel. Das kann einem jederzeit so gehen, meistens aber passiert es am frühen Morgen. Wenn es stimmt, dass jede Insel auf der Welt ihre eigene, innere Zeit besitzt – dann sind die frühen Stunden des Tages diejenigen, in denen Santorin ganz bei sich selbst ist.
Die berühmteste aller Kykladeninseln liegt nördlich von Kreta, hat etwa 25.000 Einwohner und ist geformt wie ein seitenverkehrtes großes C. Wenn man dieses C in Gedanken zu einem O ergänzt, geht man der Vergangenheit der Insel von der Form her auf den Grund. Santorin ist ein Vulkan, und wer von seinem Rand hinunter aufs Meer blickt, schaut gewissermaßen in seinen Krater. Zum – bislang – letzten Mal ausgebrochen ist der Feuerberg vor etwa 3.600 Jahren; kein Stein blieb damals auf dem anderen. Als alles vorbei war, war das alte Santorin verschwunden. Seitdem herrscht eine möglicherweise trügerische Ruhe.
Vulkane haben Menschen schon immer angezogen. Ihre Böden sind fruchtbar, weil die Lava große Mengen Mineralien aus dem Erdinnern nach oben fördert. Wein, Pistazien, Feigen, Gemüse und Getreide, alles wächst besser auf Vulkanboden. Und natürlich neigt der Mensch zur Verdrängung und setzt lieber auf sein Glück, nach dem Motto: Ach, da ist doch jetzt schon ewig nichts mehr passiert, der Vulkan ist bestimmt längst erloschen, da können wir doch hinziehen. Deswegen haben die Menschen auch Santorin schon bald nach der Katastrophe wieder besiedelt. Zuerst kamen die Phoenizier, anschließend Römer, Byzantinier, Venezianer und Osmanen. Orte wie Firá und Oia entstanden, mit ihren verschachtelten Häusern, die sich tollkühn am Kraterrand festkrallen und so blendend weiß sind, dass es vom Meer aus scheint, als liege Schnee auf der Insel. Irgendwann entdeckte dann auch die Tourismusindustrie Santorin. Im vergangenen Jahr rückten etwa zweieinhalb Millionen Besucher an. Etwa zweieinhalb Millionen von ihnen holten bereits auf der Fahrt zum Hotel Kamera oder Smartphone aus der Tasche.
Warum Thira – wie die Insel auf Griechisch heißt – einer der meistfotografierten Orte der Welt ist: Das versteht man spätestens in jenem Moment, in dem man zum ersten Mal auf die Terrasse seines Hotels tritt, irgendwo in Firá oder Oia. Tief unter einem und bis hinaus in alle Ewigkeit: das Meer. Rechts und links: jene weißen kubistischen Hauswürfel, die hier weißer und kubistischer zu sein scheinen als auf jeder anderen Kykladeninsel. So, wie Santorin selbst bezaubernder ist als jedes Foto von Santorin und deswegen bereits in kleinsten Dosierungen wirkt. Es fällt einem zum Beispiel unglaublich schwer, besagte Hotelterrasse wieder zu verlassen. Man sitzt da, trinkt einen Kaffee, trinkt ein Wasser, trinkt einen Wein, sitzt da und sieht zu, wie die Zeit vorübergeht. Es ist still auf diesen Terrassen hundert Meter über dem Meer, die dicken Mauern schlucken allen Lärm von außerhalb; manchmal ist lediglich das Klackern der Eiswürfel im Eiskaffee zu hören, den ansonsten geräuschlose Angestellte bringen. Wenn man lange genug wartet, versinkt die Sonne hinter der Ägäis, und man muss die Augen zukneifen, weil dann alles funkelt und blitzt und glitzert, als habe sich das Wasser in flüssiges Gold verwandelt. Wenn man den Blick vom Meer abwenden kann und sich umdreht und Santorin selbst betrachtet, scheint es zu leuchten. Von
innen heraus. Aus sich selbst.
Sehen, schauen, spazieren gehen: Viel mehr muss man hier nicht tun. Langweilig wird das nie. Die Tourismusindustrie verkauft Santorin ja gerne als Beach-Destination, und tatsächlich gibt es auf der kraterabgewandten Ostseite einige schöne Strände. Der Unique Selling Point der Insel aber sind (neben den fantastischen Hotels) ihre magischen Panoramen; in der großen, weiten Ägäis existiert nichts Vergleichbares, kein Eiland, das Ähnliches zu bieten hätte. Die schönsten Ausblick-Stellen lassen sich übrigens alle zu Fuß erreichen. Mittlerweile ist ein Dutzend scenic walking routes ausgeschildert. Die spektakulärste Strecke ist die von Firá nach Oia, immer am Rande des Kraters entlang.
Entlang dieser Route sieht Santorin an etlichen Stellen bis ins kleinste Detail durcharrangiert aus: Der blaue Türrahmen passt zu den blauen Fensterläden, und die passen zum blauen Gartenzaun, und der wiederum zu den blauen Kuppeln der Kirchen. Die Katzen liegen so malerisch auf den weiß verputzten Treppenstufen, dass man sie für Attrappen hält. Und wenn man nicht sehen würde, wie schwer sich die verhutzelten Großmütterchen auf den steilen Treppen abmühen – man könnte sie für Statistinnen im Dienste der Fremdenverkehrswerbung halten. Anders gesagt: So wie Santorin würde man eine griechische Insel anlegen, wenn es noch keine griechische Insel geben würde.
Seine Schönheit ist Thira in den vergangenen Jahren allerdings ein bisschen viel geworden. Es gab Tage, an denen stürmten 15.000 Kreuzfahrer die Treppen nach Firá hinauf (die Verwaltung hat die Zahl mittlerweile auf 8.000 beschränkt) und das Meer mit all den ankernden Schiffen sah aus wie damals die See vor Troja, kurz bevor die Schlacht um die Stadt begann. Dass die Insel in amerikanischen Braut und Bräutigam-Magazinen als ultimatives Ziel für Hochzeiten gepriesen wird, macht die Sache nicht einfacher. Dazu kommen Instagram-Influencer, YouTuber und all die anderen Sonnenuntergangs-Junkies mit ihren Selfiesticks. Und seit Santorin vor ein paar Jahren Kulisse für einen Film namens Beijing Love Story spielte, den in China 400 Millionen Menschen gesehen haben, wächst allein die Zahl der Besucher von dort Jahr für Jahr im dreistelligen Prozentbereich. Mittlerweile bleiben beinahe 150 Hotels rund ums Jahr geöffnet. Wenn die Insel es schafft, sich als Ganzjahresdestination zu etablieren, würde die Situation in der Hochsaison wahrscheinlich schnell entspannter
Man sagt übrigens, die Santoriner selbst hätten kein Auge für die beinahe schon kitschige Schönheit ihrer Heimat – sie würden lieber viel Geld verdienen und zugleich gotteslästerlich auf die Regierung in Athen schimpfen, und vielleicht ist das tatsächlich so. Möglicherweise wollen sie ihre Insel aber auch einfach ein wenig für sich behalten. Nicht jeden schmalen Weg auf jedem Stadtplan eingezeichnet haben. Nicht alle ihre Lieblingsflecken von Fremdenführern ausgeplaudert wissen. Vielleicht sorgen sie sich um ihre Insel und wollen nicht alle Orte ihrer Jugend erobert sehen von lärmenden chinesischen Reisegruppen und jungen
Frauen in Bikini-Tops, die sich für ihr Selfie schnell noch die Lippen nachziehen. Vielleicht möchten sie einfach, dass man ihrer Heimat das eine oder andere Geheimnis lässt.
Der wahrscheinlich beste Ort, der Seele Santorins näherzukommen, ist die einzige Buchhandlung der Insel. Vier amerikanische College-Abbrecher haben Atlantis Books 2004 gegründet, in einer ehemaligen Kapitänswohnung in Oia, dort, wo Santorin von einem Schritt auf den anderen zu Ende ist. Weil immer wieder junge Leute aus aller Welt aushalfen und anpackten, ist Atlantis Books 16 Jahre später immer noch da. Und noch immer arbeiten hier belesene und gebildete Menschen, die einem alles über die Insel erzählen können.
Welche Folgen der Vulkanausbruch damals hatte zum Beispiel. Die Eruption löste wahrscheinlich einen gewaltigen Tsunami aus, der auf Kreta offenbar die komplette minoische Kultur auslöschte. Wie sich deshalb das Machtgefüge im Mittelmeerraum verschob, wie das klassische Griechenland entstand, weil das einst mächtige Kreta keine Rolle mehr spielte. Dass Europa heute möglicherweise ein anderes Europa wäre, wenn der Vulkan damals nicht ausgebrochen wäre. Die Schockwellen der Eruption hallten derart im kollektiven Gedächtnis der Mittelmeerkulturen nach, dass Platon später angeblich vermutete, im Krater von Santorin liege das mystische Atlantis versunken. Anderswo würde man aus einer solchen Steilvorlage übrigens einen Höllenrummel entfachen, vom Erlebnispark bis zum „Der Tag, an dem die Welt unterging“-Musical mit Vicky Leandros in der Hauptrolle. Auf Santorin gibt es nichts davon, nur die Ausgrabungen der damals zerstörten Stadt Akrotiri zeugen von der Katastrophe. Wahrscheinlich hat man hier schon sehr früh gelernt, dass man die Götter besser nicht herausfordern sollte, wenn man am Rande eines Vulkankraters lebt. Auf einem kleinen Stück Land mitten im Meer.
Statt in den Erlebnispark kann man abends nach Kamari ins Open-Air-Kino gehen, das geformt ist wie ein altes hellenisches Amphitheater. Hier treffen sich einheimische Paare, Jugendliche und ein paar Touristen; sämtliche Filme laufen in der Originalsprache. Man sitzt in Stühlen mit Leinenlehne, isst Popcorn und trinkt das inseleigene „Yellow Donkey“-Bier, während die Grillen in den Bäumen ihre Beinchen aneinanderreiben, als wollten sie unbedingt zum Soundtrack des Films beitragen. Die Kinobetreiber halten Decken bereit. An Frühlingsabenden kann es noch kühl werden in der Ägäis.
Über die kommt an diesen Tagen der Meltemi gezogen, der Nordwind, der die Luft klarer und das Leben leichter werden lässt, und manchmal verfängt er sich in den engen Gassen von Firá und Oia und findet den Weg nicht wieder hinaus. Dann jagt er den Frauen von hinten unter die Röcke und den Kindern die Kappen von den Köpfen, er ruckelt an den Postkartenständen und lässt die Fensterläden knallen. Dann sitzen die Menschen auf Santorin in der Brise vor ihren Häusern,
schauen hinaus Richtung Horizont und lächeln. Als blase der Wind nicht bloß die Blüten über die Terrasse, sondern auch ihre Sorgen, die kleinen und die großen, hinaus aufs Meer.
Titelbild: In der blauen Stunde herrscht auf Santorin eine ganz besondere Stimmung
© Fotos: Oliver Raatz (22), Stefan Nink (4)
Stand der Informationen: 10.12.2019. Die verbindliche Beschreibung der bei airtours buchbaren Leistungen finden Sie in der Buchungsstrecke der tui.com.
Stefan Nink
Stefan Nink schreibt Reisereportagen und Romane, fotografiert Menschen und Landschaften.